Ein Überdruß
Gestern Morgen aber begab es sich, daß ich's kurz hintereinander dreimal (in derselben) Zeitung las und zweimal (von verschiedenen Leuten) im Radio hörte. Und jetzt mag ich nicht mehr.
Oft kann das ja ein Anlaß sein, in sich zu gehen, dort Fehler zu suchen, dieselben zu beseitigen und dann wieder aus sich herauszukrabbeln. Besonders war's in mir drin nicht, aber ich ahne jetzt immerhin, daß ich, scheint's, schon wieder etwas ganz Fundamentales nicht verstanden habe, nämlich die Formel, daß es irgendwie sehr schlimm, verwerflich gar sei, "einfache Antworten auf komplizierte Fragen" zu geben, zu erwarten, zu verlangen usw. Und diese Ahnnung ergab sich so:
Warum einfach, wenn's auch kompliziert geht? oder umgekehrt? oder noch anders?
Weil die Entität berufsbedingt schwer von Begriff ist, baumelte ihr die seit einiger Zeit, die irgendwie mit dem an- und sogleich abhebenden Bobbolismius-Gemorkel zusammenzufallen scheint, die erwähnte Formel im Schädel herum. Das Baumeln wurde stärker und führte zu Scheppergeräuschen, weil man's immer noch öfter hörte, zumeist in Kombination mit "diejenigen, welche (folgt Formel)". Und jetzt, also gestern, ist mir aufgefallen, daß ich sie gar nicht recht verstehe. Also nicht gar überhaupt nie nicht verstehe, sondern irgendwie nicht recht, undeutlich, nebelig. Was ich verstehe, ist, daß das schlimm oder mindestens unangemessen ist, und irgendwie neige ich hier sogar zur Zustimmung. Andererseits ist es vielleicht gar nicht schlau, einer Sache zuzustimmen, die man nur irgendwie, aber gar nicht recht verstanden hat. Aus diesem Hirnschwurbel heraus hat auch nicht geholfen, die zugegebenermaßen wenigen Leute, die in einer geeigneten Position sind, jene Formel zu gebrauchen, und der Entität über ihren Watschelweg gelaufen sind, nach geeigneten Beispielen zu fragen. Es sind nämlich niemandem welche eingefallen. Nur schlimm war's. Darüber herrschte aber Einigkeit.
Verwirrend scheint dies:
So wie die Formel gebaut ist und gebraucht wird, riecht sie sehr nach einer Allaussage. Denn sie soll bestimmt nicht sagen, daß es ab und zu schon ganz in Ordnung sei, einfache Antworten auf komplizierte Fragen zu geben. Wäre das so, verlöre sie ihr anklagendes Potential und würde ingesamt unpraktisch, weil sie dann zugleich forderte, immer an der einzelnen Frage zu überprüfen, ob ihr die Antwort angemessen ist. Also wird wohl eher (ungefähr) gemeint sein: "Immer wenn jemand auf eine komplizierte Frage eine einfache Antwort gibt, ist das (oder der oder die) schlimm (oder mindestens unangemessen)."
Wenn das ungefähr gemeint ist, scheint es eine Behauptung einzuschließen; nämlich die, daß auf komplizierte Fragen immer komplizierte Antworten gegeben werden müssen.
Jetzt paß' auf! Auch wenn man darauf verzichtet zu fragen, was denn hier eigentlich "kompliziert" heißen soll und sich damit zufrieden gibt, daß eine entsprechende Frage oder Antwort wohl irgendwie aus ziemlich vielen Bestandteilen zusammengesetzt sein wird, die in vielerlei Beziehungen zueinander stehen, fällt einem doch ein ganzer Haufen Beispiele ein, wo die Frage einfach und die Antwort kompliziert ist ( "Was ist der Mensch?" "Wie ist meine Brille in meinen Kühlschrank gekommen?" "Was soll ich tun?") oder die Frage kompliziert und die Antwort tatsächlich einfach ("Wie verhalten sich Zeit, Raum und Gravitation zueinander?" "Was ist der Sinn des Lebens, des Universums und des ganzen Rests?" - freilich gibt auch jede Matheaufgabe in etwas höheren Klassen ein ordentliches Beispiel ab).
Irgendwie scheint das alles nicht zu passen. Der Gedanke beschleicht einen, daß die Unterscheidung von einfach und kompliziert schrecklich kompliziert ist. Sie könnte nämlich jeweils davon abhängen, was man unter den in den Fragen und Antworten gebrauchten Ausdrücken versteht, welche Kenntnisse und methodische Fähigkeiten man hat, welcher generellen Sicht der Welt man anhängt usw. Aber wäre dann die Auskunft, daß für den, der - wie, sagen wir, ein Oberstudienrat oder -direktor - die Antwort auf jede Frage, dier ersie stellt, immer schon weiß, jede Frage einfach ist, und umgekehrt, der Weisheit öder Schluß? Dann aber wären die gestellten Fragen, wie ein vielleicht schon unverdient halbwegs vergessener Hr. Gadamer bemerkt hat, Lehrer-, Schüler- oder Prüfungsfragen und also gar keine echten Fragen, solche nämlich, die man frägt, weil man halt das gerade nicht weiß, wonach man frägt. Und mich dünkt, wenn man schon vorher weiß, wie die Antwort auf eine Frage auszusehen hat, dann hat man keine echten Fragen, sondern bloß Oberstudienratsfragen. Das ist freilich blöd und sollte so gar nicht herauskommen, denn irgendwie soll die Kompliziert-einfach-verboten-Formel ja doch "scho' au'" (J. Löw) stimmen.
Oft ist es ja so, daß das Banale, also das völlig Unoberstudienratshafte das Wahre ist - so peinlich es auch immer sein mag. Wäre dem so, könnten wir sagen, daß die schicke Formel in die Irre führt - ob absichtlich oder nicht. Denn vielleicht wollen die Leute, die sie verwenden, mit ihr sagen oder sacht andeuten, daß sie auf manche, womöglich nicht völlig unwichtige Fragen noch gar keine Antwort haben; einfach weil vielleicht nicht die Frage selbst so hirnzerbrechend kompliziert ist, sondern nur der Weg zu ihrer Lösung, die man am Ende gar noch nicht gefunden hat. Und vielleicht hat man es hier sogar dann, wenn man sie gefunden hat, mit einer Lösung zu tun, die man nicht einmal eine wahre (oder falsche) Antwort nennen kann, weil der Sachverhalt, der ihre Wahrheit (oder Falschheit) erweist, in der Zukunft liegt? Wäre dem so, wäre es tatsächlich verwerflich, so zu tun, als besäße man eine wahre Antwort. Aber die könnte naturgemäß beliebig einfach oder kompliziert sein. Übrigens liegen alle Antworten auf relevante politische Fragen in der Zukunft...
Schlicht, weil es überhaupt nicht um die Einfachheit oder Kompliziertheit von Fragen und Antworten geht, sondern eher darum, was man wissen und machen und behaupten und begründen kann, und ein bißchen darum, daß es gar nicht schlimm ist zuzugeben, daß man nicht wissen kann, was niemand wissen kann. Dazu gehört unter anderem, was in der Zukunft (nächste Viertelstunde, morgen, kommendes Jahr, übernächstes Jahrtausend etc.) geschehen oder sein wird. Gibt man selber zu, daß man das trotz seiner womöglich herausgehobenen Position (Oberstudienrat, Papst, Landes- oder Bundesminister, Fußballtrainer, Wirtschafts- und Bankfuzzi - weiß gerade nicht, wie das alles heißt -, Akademiker überhaupt, Präsident von irgendwas etc. ad inf.) unter den Sterblichen auch nicht weiß, wird es vermutlich sogar einfacher, anderen unter die Nasen zu reiben, daß sie's ebenfalls nicht wissen und deswegen besser nicht so tun sollten. Oder sollte es vielleicht so sein, daß von den Formelbenutzern geglaubt wird, es würde von ihnen (durch andere oder, noch übler, durch sich selbst) erwartet, mehr zu wissen als man eigentlich wissen kann?? Dann wäre eine einfache Frage zu fragen, nämlich die, warum das (das Glauben und das Erwarten) so sein mag? Es schaudert einen ob der möglichen einfachen Antworten.